Der Schicksalsweg der Breslauer Lassalle-Fahne
"Ein Mann pflanzt ein Banner auf" war die Überschritt des Lassalle-Artikels von Wilhelm Dittmann, der die Beilage "90 Jahre Sozialdemokratie" im "Neuen Vorwärts" vom 1. Mai einleitete. Sie war dem 90. Jahrestag der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unter Vorsitz Lassalles gewidmet. Die Gründungsversammlung fand am 23. Mai 1863 in Leipzig statt. Zehn Jahre später weihte der Arbeiterverein in Lassalles Geburtsstadt Breslau ein Banner ein, dessen Geschichte heute erzählt werden soll.
Unter den hundert Fahnen, die vor 14 Tagen beim Frankfurter sozialdemokratischen Wahlkongreß in den Saal getragen und dort aufgestellt wurden, nahm die Breslauer Lassalle-Fahne, die bei der Aufbahrung Kurt Schumachers im August vorigen Jahres den Sarg bedeckt hatte, wieder einen Ehrenplatz ein.
Es ist eine große rote Fahne, auf deren Vorderseite ein Eichenkranz mit Schleife, ein ineinander verschlungenes Händepaar und dazu die Inschrift eingestickt ist: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Einigkeit macht stark. 23. Mai 1863. Ferdinand Lassalle." Man hat daraus schließen wollen, daß die Fahne tatsächlich noch zu Lebzeiten Lassalles, im Jahre 1863 oder 1864, hergestellt und eingeweiht worden ist. Aber das Studium der Geschichte der Breslauer Sozialdemokratie ergibt, daß die Lassalle-Fahne aus dem Jahre 1873 stammt. Sie ist bei einem Stiftungsfest des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins eingeweiht worden, das am 21. Juni 1873 zur Feier des zehnjährigen Bestehens des von Lassalle gegründeten Arbeitervereins in einem der noch bis in unsere Zeit bekanntesten Breslauer Versammlungssäle, dem "Schießwerder", abgehalten wurde. Das Datum "23. Mai 1863", das sich auf der Fahne befindet, bezieht sich auf den Gründungstag des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, nicht auf den Einweihungstag der Fahne.
In der Geschichte dieser Fahne spiegelt sich die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Als die Fahne eingeweiht wurde, tobte auch In Breslau noch der Bruderkampf zwischen Lassalleanern und Eisenachern. Als drei Jahre später, nicht zuletzt unter dem Druck der Polizei- und Justizverfolgung, gegen beide Richtungen der Sozialdemokratie, Ihre Vereinigung auf dem Gothaer Kongreß erfolgt war, ging die Fahne in den Besitz des Breslauer sozialdemokratischen Wahlvereins über, der nach Auflösung des Algemeinen Deutschen Arbeitervereins gegründet worden war.
Beim "roten Postmeister"
Drei Jahre später trat Bismarcks Sozialistengesetz in Kraft, und die Lassalle-Fahne, die damals schon als kostbarer Schatz von den Breslauer Sozialdemokraten gehütet wurde, wanderte in ein Versteck, um dem Zugriff der preußischen Polizei entzogen zu bleiben. Im Jahre 1886 hatte die Verfolgung der Sozialdemokratie in Breslau so brutale Formen angenommen und die Reihen der aktiven Sozialisten waren durch Verhaftungen und Verurteilungen so geschwächt, und die Gefahr der Bespitzelung war so groß geworden, daß es dem damaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten für Breslau-West, Julius Kräcker, geraten schien, die Fahne ins Ausland zu senden.
1890 endlich kam mit Bismarcks Sturz auch das Ende des Sozialistengesetzes. Julius Kräcker hat es freilich nicht mehr erlebt. Er war zwei Jahre vorher gestorben. Seine Gesundheit hatte den Aufregungen der illegalen Parteiarbeit und der vielen Strafprozesse nicht standgehalten. Motteler hatte inzwischen die Schweiz verlassen und seine Tätigkeit in England fortgesetzt. Er hatte nicht vergessen, die Lassalle-Fahne mit nach London zu nehmen. Und er sandte sie nach Breslau zurück, als dort die Partei wieder die legale Arbeit begonnen hatte.
Die alte Fahne ist in den folgenden Jahren von den Breslauer Sozialdemokraten oft gehißt worden, und die königlich-preußische Polizei hat noch oft genug an ihr Anstoß genommen, denn das Zeigen roter Fahnen galt im wilhelminischen Deutschland auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes als staatsgefährlich. "Über unsere schöne rote Parteifahne hat sich später noch so manchesmal die Breslauer Polizei geärgert, jetzt weht sie in der Republik Deutschland. Es wird das Bestreben der Breslauer Sozialdemokraten bleiben, mit dafür zu sorgen, daß ihre Fahne einst in der freien, sozialistischen deutschen Republik weht. Dies sind wir dem Andenken der Helden des Ausnahmegesetzes schuldig", schrieb der Breslauer Landtagsabgeordnete Theodor Müller in seiner 1925 erschienenen "Geschichte der Breslauer Sozialdemokratie". Er ahnte damals, im Todesjahr Friedrich Eberts, nicht, daß acht Jahre später eine neue, weit furchtbarere Zeit der Verfolgung für die deutsche Sozialdemokratie beginnen und die alte Fahne abermals ins Versteck wandern sollte. Noch weniger konnte er das Schicksal Breslaus vorausahnen.
Vergraben und eingekellert
Der jetzt in Nürnberg lebende Breslauer Sozialdemokrat Karl Simon, dem es 1946 gelang, die Lassalle-Fahne nach Westdeutschland zu bringen, berichtet, daß 1933 sofort nach Hitlers Machtübernahme die Gestapo versuchte, der Fahne habhaft zu werden, die bei den Breslauer SPD-Kundgebungen in der Weimarer Republik stets einen Ehrenplatz eingenommen hatte. Um die damals schon 60jährige Fahne vor der Schändung oder Zerstörung durch die Nazis zu bewahren, gruben Breslauer Sozialdemokraten im Juli 1933 die Fahne in einer Hülle in einem Schrebergarten ein. Das Versteck war nur den unmittelbar Beteiligten bekannt. Alle zwei Jahre sahen sie nach, ob die Fahne noch unversehrt war. 1942 gruben sie die Fahne aus, und das Tuch wurde nun der Reihe nach von treugebliebenen Genossen und Genossinnen zur Aufbewahrung übernommen. Es ist den Nazis nicht gelungen, das Versteck der Fahne zu erfahren.
Im Januar 1945 erhielt der Installateur und Brunnenbauer Karl Simon die Fahne. Er versteckte sie, in Öltuch gehüllt, in einem tiefen Keller, wo sie den Krieg, die Luftangriffe und die Belagerung Breslaus durch die Rote Armee überdauerte. Sie blieb auch nach Kriegsende in ihrem Versteck, um nicht in die Hände der Polen oder Russen zu fallen.
Karl Simon, der noch bis 1946 in Breslau blieb, erzählt, daß eines Tages ein russischer Offizier bei ihm erschien und die Lassalle-Fahne zu sehen wünschte. Zuerst leugnete Simon, etwas von ihr zu wissen, aber der Offizier erklärte ihm, daß ein von den Russen verhafteter Breslauer als Beweis dafür, ein Antifaschist gewesen zu sein, die Geschichte von der versteckten Lassalle-Fahne erzählt hatte. Wenn sich die Geschichte als wahr erweise, sei der Mann zu retten. Es handelte sich tatsächlich um einen Sozialdemokraten, der Karl Simon bekannt war. Um ihn nicht im Stich zu lassen, mußte Simon sein Leugnen aufgeben. Aber er erklärte sich zum Zeigen der Fahne nur unter der Bedingung bereit, daß er die Fahne behalten dürfe, und daß der russische Offizier die Fahne mit nicht mehr als drei Mann Begleitung besichtigen werde.
Der russische Offizier gab die verlangten Zusagen und erschien bald darauf mit drei Sowjetsoldaten, um die Fahne zu sehen. Simon brachte die Fahne, löste sie aus der Umhüllung und entfaltete sie. Die Russen salutierten mit erhobener Faust, und der Offizier übersetzte feierlich die Inschrift. Dann zogen die Russen ab, und Simon glaubte schon, daß die Gefahr vorüber sei. Aber einige Tage später erschien der russische Offizier noch einmal und fragte Simon, ob er die Fahne nicht doch herausgeben wolle. Er versprach ihm als Belohnung einen Waggon mit Lebensmitteln. Als Karl Simon jedoch entschieden ablehnte, schien der russische Offizier Achtung vor so viel Standhaftigkeit zu haben, und Simon blieb wegen der Fahne fortan unbehelligt.
Aus der Heimat vertrieben
Im Februar 1946 kam der Tag, an dem auch Karl Simon die Heimat verlassen mußte. Er verschaffte sich von einer Molkerei einen Sack, der früher bei der Quarkherstellung benutzt worden war, und in ihm verstaute er seine Betten und zwischen ihnen die alte Fahne. Mit diesem Sack trat er die Reise zu seiner schon 1945 ausgewiesenen Frau an, und mit ihr und seinem aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Sohn siedelte er dann nach Nürnberg über, wo er heute als Verwalter einer städtischen Bauarbeiterunterkunft lebt.
Sofort nach seiner Ankunft in Nürnberg meldete er sich beim dortigen Parteibüro der SPD und übergab die Fahne dem damaligen Parteisekretär und jetzigen Bürgermeister Julius Loßmann, der sie zur Aufbewahrung ins Nürnberger Rathaus gab. Als im Sommer 1947 der Parteitag der SPD in Nürnberg stattfand, wurde die Fahne dem Vorstand der SPD übergeben. Kurt Schumacher nahm sie in Empfang, sie wurde zuerst in die Odeonstraße in Hannover und später ins Haus des Parteivorstandes in Bonn gebracht.
Als Julius Kräcker in der Zeit des Sozialistengesetzes die Lassalle-Fahne ins Ausland gesandt hatte, hatte er der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß die Zeit kommen werde, in der die Breslauer Sozialdemokraten ihr altes Banner zurückfordern und hissen können. Vier Jahre später ging diese Hoffnung in Erfüllung. Als die Fahne vor sechs Jahren in Nürnberg dem SPD-Vorstand übergeben wurde, hat Karl Simon eine Bedingung gestellt: Wenn Breslau wieder deutsch wird, soll das Banner zurück in die alte Heimat. Wann wird diese Hoffnung in Erfüllung gehen?
Noch ist die Geschichte der Lassalle-Fahne, die Karl Simon kürzlich beim Frankfurter Wahlkongreß wiedersehen konnte, nicht zu Ende.
G. G.
Aus: Neuer Vorwärts v. 22.5.1953
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